Viktoria Adam
Kathrin Winter
Université de Heidelberg
Viktoria Adam est depuis 2008 enseignant-chercheur au département de philologie romane à l’université de Heidelberg où elle enseigne la littérature italienne. Elle s’intéresse notamment à la littérature transculturelle, aux études de genres et à la littérature européenne du XIXe siècle. Sa thèse, intitulée Der lunatische Roman und die Poetik der Ambivalenz. Narratologische Untersuchungen zum Romanwerk Ermanno Cavazzoni (Le roman lunatique et la poétique d’ambivalence) a été publiée en janvier 2014.
Kathrin Winter est depuis 2009 enseignant-chercheur au département de philologie classique à l’université de Heidelberg. Ses recherches actuelles portent sur la tragédie romaine, la poésie néronienne et augustienne ainsi que la conception de l’espace dans la littérature latine. En 2014 a été publiée sa thèse Artificia Mali. Das Böse als Kunstwerk in Senecas Rachetragödien (Artificia Mali. Le mal comme œuvre d’art dans les tragédies de vengeance de Sénèque).
La contribution se concentre sur deux versions du mythe de Médée : l’analyse de Medea de Sénèque et de La Medea de Dario Fo/Franca Rame montrera comment le personnage de Médée se réinvente et s’actualise pendant le processus de réflexion qui le porte jusqu’à l’infanticide. La comparaison du texte antique avec le texte moderne éclairera les différentes facettes de ce développement fatal ainsi que les diverses stratégies d’actualisation employées dans les œuvres de Sénèque et de Fo/Rame.
This paper focuses on two dramatic versions of the myth of Medea: Seneca’s Medea and La Medea by Dario Fo/Franca Rame. We will demonstrate that both plays present Medea as a mythological figure who, by the means of a complex process of (self-)reflection, comes to the fatal decision to commit infanticide. By doing so, she forges her own identity and also recreates Medea in front of the audience. The comparison between the ancient and the modern text will explore the unique and yet recurring development of Medea as well as the strategies of renewal used by Seneca and Fo/Rame.
Von der Antike bis zur Gegenwart erregt eine Mutter, die ihre Kinder tötet, Abscheu. Die mythologische Figur der Medea erscheint dem Rezipienten daher immer schon als Monstrum. Dennoch übt sie auch eine faszinierende Anziehungskraft aus, die dafür sorgt, dass die Kunst sie immer wieder neu in den Blick nimmt. Eines der stärksten Potentiale, das diese Figur besitzt, ist das der Selbstkonstituierung und Aktualisierung: Der Terminus „Aktualisierung” bezeichnet den psychologischen Prozess, in dessen Verlauf die Figur der Medea ihre Identität als Kindermörderin auf innerfiktionaler Ebene erschafft. In jeder künstlerischen Ausformung ist Medea eine Figur, die sich zum Kindermord entschließt und ihn dann realisiert; sie erfindet sich selbst, indem sie einen Teil ihrer selbst tötet, um eine neue Identität hervorzubringen. Neben der innerfiktionalen Ebene ist hier auch die intertextuell-mythologische Ebene zu berücksichtigen, da Medea gerade durch den Kindermord zur Medea in der Tradition des Mythos wird. Der Rezipient, der diesen (immer gleichen) Selbstfindungsprozess im Werk verfolgt, beobachtet also unweigerlich auch, wie sich Medea als Medea selbst aktualisiert. In diesem Spannungsfeld sind die beiden dramatischen Bearbeitungen des Mythos angesiedelt, anhand derer im Folgenden die Aktualisierungsstrategien der Medea illustriert werden sollen. Dabei handelt es sich zum einen um die antike Tragödie Medea von L. Annaeus Seneca1 L. Annaeus Seneca, Tragoediae, Otto Zwierlein (Hg.), Oxford, Clarendon, 1986. Konventionsgemäß wird die Tragödie im Folgenden als Med. abgekürzt und auf die Verszahlen verwiesen. Dario Fo / Franca Rame, Le commedie di Dario Fo VIII. Venticinque monologhi per una donna, Torino, Einaudi, 1989. Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris, Seuil, 1980. Kristeva nennt als Auslöser für eine Abjektion beispielsweise Materie, die einmal Körper war oder zum Körper gehörte wie Körperflüssigkeiten oder -gewebe (ibid., S. 9-11). Ibid., S. 12. Ibid., S. 12f. Ibid., S. 20f.
„Non sunt mei“: Aktualisierung der Medea bei Seneca
In keiner anderen antiken Version des Mythos wird Medeas Entwicklungsprozess so klar benannt wie in Senecas Tragödie aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.7 Im Vergleich mit der euripideischen Tragödie verfährt die senecanische Version auf eine deutlich psychologischere Weise. Med. 23a-26.. Hier lässt sich das Spannungsfeld von innerfiktionaler Darstellung, in der Medea um ihre Rache und damit um ihre Identität ringt, ohne den Ausgang zu kennen, und intertextueller Verknüpfung, in der dem Leser die tragische Ironie des Ausspruchs bewusst ist, erkennen. Med. 49f.
Was im ersten Akt als eine abgeschlossene Entwicklung erscheinen könnte, wird im Verlauf des Stücks als ein noch andauernder Prozess markiert, mit dem die Aktualisierung von Medeas Identität einhergeht. So spricht im zweiten Akt, noch bevor die Entwicklung richtig begonnen hat, die engste Vertraute Medeas, die Amme, ihren Schützling an und wird von Medea gleich unterbrochen: AM. „Medea –“ ME. „Fiam. 11 Med. 171. In der Forschung ist es z.T. umstritten, ob Medea eine wirkliche Entwicklung durchläuft, cf. z.B. Denis Henry / Brioney Walker, „Loss of Identity: Medea superest? A Study of Seneca’s Medea“, CPh, no 62, 1967, S. 169-181. Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass Medea in dieser Entwicklung zu dem wird, was sie immer schon war (vgl. dazu die vielzitierte Bemerkung, Senecas Medea habe die Medea des Euripides gelesen; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Tragödien. Band III, Berlin, Weidmann, 1906, S. 162. Auch hier zeigt sich das Spannungsfeld zwischen der innerfiktional dargestellten, psychologischen Selbsterfindung und dem intertextuellen Spiel mit der mythologischen Tradition der Medeafigur).
Indes erfindet Medea im weiteren Verlauf ihre eigene Identität – was ungewöhnlich ist, dienen doch Frauengestalten in der antiken, v.a. in der griechischen Tragödie gewöhnlich zur Konstituierung eines männlichen Selbst13 Bei Euripides etwa ist Medea das „Andere“ zu Jason, sie verkörpert das Fremde, Nicht-Griechische, von dem sich das Eigene und Griechische abgrenzt: cf. Froma Zeitlin, Playing the Other. Gender and Society in Classical Greek Literature, Chicago/London, The University of Chicago Press, 1996, S. 345-349; Edith Hall, Inventing the Barbarian. Greek Self-Definition through Tragedy, Oxford, Clarandon, 1989, S. 1-19. Das Konzept von der Wechselseitigkeit von Identität und Alterität geht auf Hegel zurück und wurde später von de Beauvoir in den Bereich der Gender Studies überführt. Dafür würde sich Jason anbieten, auf den Medea sich immer bezieht und zu dem sie in allen ihren Aussagen eine Art Ausgleich herstellen zu wollen scheint. Med. 129f. Zu den wörtlichen Entsprechungen zwischen Medeas früheren und künftigen Taten cf. Karin Haß, “Medea nunc sum. Medeas Schlussmonolog und der Aufbau von Senecas Medea”, AU, no 40, 1997, S. 63-65; Kathrin Winter, Artificia mali. Das Böse als Kunstwerk in Senecas Rachetragödien, Heidelberg, Winter, 2014, S. 97-113.
Die Entwicklung dieser Rache, mit der auch die Konstituierung von Medeas Identität einhergeht, wird im Stück eher als eine Bewusstwerdung denn als rationale Planung dargestellt: Während Medea zu Beginn nur die Ausmaße kennt, die ihre Rache erreichen soll, nehmen im weiteren Verlauf immer mehr Details Kontur an17 Gianni Guastella, “Virgo, Coniunx, Mater: The Wrath of Seneca’s Medea”, ClAnt, no 20, 2001, S. 198-205; Haß, loc. cit., S. 62-66; Winter 2014, S. 69-97. Med. 910. Med. 921-925.
Obwohl Senecas Medea kein Opfer, sondern eine grausame Täterin ist, trifft sie diese Entscheidung nicht leichtfertig. Allein mit sich selbst, aber umso aktiver ringt sie mit ihrer Erkenntnis und erschaudert vor der unfassbaren Monstrosität ihres Plans. In körperlichen Reaktionen schlägt sich der Schock nieder, ihr Zorn scheint verschwunden: „ira discessit loco materque tota coniuge expulsa redit20 Med. 927f. S. Harry Hine, Seneca. Medea, Warminster, Aris & Philipps, 2000, S. 203. Zur Idee des „splitting self“, mit dem Charaktere der senecanischen Tragödie ihre Identität konstituieren, cf. John Fitch / Siobhan McElduff, “Construction of the Self in Senecan Drama”, Mnemosyne, no 55, 2002, S. 24-32; Anthony Boyle, Medea – Seneca, Oxford, Clarendon, 2014, S. 170f.
Medea schwankt, ob sie den Kindermord vollziehen soll, da ihr das Verbrechen unvorstellbar erscheint22 Med. 931. Med. 998. Med. 929f. Med. 934f. Cf. dazu Hine, loc. cit. S. 203.
Dieser Prozess setzt sich fort, da jede Nähe, die Medea heraufzu¬beschwören versucht, zu einer umso heftigeren Abstoßungsbewegung führt. Als sie, so scheint es, der pietas, der Mutterliebe, den Vorzug vor den Rachegelüsten gewährt hat27 Med. 939-944. Med. 945-947. Med. 949. Die annähernden und abstoßenden Bewegungen zwischen Medea und ihren Kindern lassen sich im gesamten Drama beobachten. Zum einen zieht Medea die Kindern an sich, wenn sie z.B. Creo beschuldigt, Mutter und Kinder auseinanderzureißen (Med. 144-146), zum anderen distanziert sie sich von ihnen, wenn sie sie skrupellos für ihre Zwecke instrumentalisiert oder sich in der Auseinandersetzung mit Jason deutlich von ihnen lossagt (Med. 507).
Mag die beschworene Nähe im Moment der Entscheidung ein Zeichen mütterlicher Regung sein, sie bildet nur einen umso kruderen Gegensatz zur erneuten Abstoßungs¬bewegung, die Medea gleich darauf vollzieht. Im aufwallenden Zorn bedauert sie, nur zwei Kinder geboren zu haben, anstatt einer großen Kinderschar: „utinam superbae turba Tantalidos meo / exisset utero bisque septenos parens / natos tulissem! sterilis in poenas fui31 Med. 954-956. Cf. Kathrin Winter, “The Birth of Revenge in Seneca’s Medea”, in Lesel Dawson / Fiona McHardy (Hg.), Revenge and Gender from Classical to Early Modern Literature (in Vorbereitung). Hier lässt sich eine Ausgestaltung des Abstoßungsprozesses beobachten, den Kristeva in der konzisen Phrase „Pas moi. Pas ça.“ fasst (Kristeva, loc. cit., S. 10): Medea weiß, dass sie als Mutter ihre Kinder und damit einen Teil ihrer selbst nicht töten kann; das fassungslos erscheinende „ça“ lässt sich hier demgemäß zunächst auf die Vorstellung des Kindermords beziehen. Medea weiß aber auch, dass nur der Mord zu ihrer neuen Identität führen kann; in diesem Fall bezeichnet „ça“ die Kinder selbst, die Medea von ihrem Ich („moi“) trennt. Sie muss diesen Teil ihrer selbst zu etwas anderem machen, aber nicht zu einem Objekt, sondern zu einem Abjekt, das sie verwerfen und von sich weisen kann („Mais pas rien non plus“; ibid.). Med. 957.
Auch nach diesen Überlegungen intensiviert sich die Verwerfung weiter. Sobald Medea das erste Kind getötet hat und auf ein Hausdach geflohen ist, hat sie wieder in ihre triumphale Pose gefunden. Sie konfrontiert den hilflos heraneilenden Jason mit dem toten Sohn und inszeniert langsam den Mord an dem noch lebenden Kind. Die Distanz und die Abstoßung von den Söhnen erhält ihre letzte Ausprägung kurz vor dem zweiten Mord: „in matre si quod pignus etiamnunc latet / scrutabor ense viscera et ferro extraham35 Med. 1012f. Zur Geburtsmetaphorik im gesamten Drama S. Winter 2014, S. 78-86 und Winter (in Vorb.).
Was hier geschieht – nicht nur in Senecas Medea, sondern in jeder Medea –, ist eine radikale Aktualisierung eines Ichs. Die Verwerfung ihrer selbst oder zumindest eines Teils ihrer selbst setzt die Grenzen von Medeas Identität neu. Ihre Aktualisierung als Medea bedeutet damit einen Kulminationspunkt der Subjektserfahrung37 Kristeva, loc. cit., S. 12. Med. 1026f.
„Mori! Pe’fa’nascere“: Aktualisierung der Medea bei Fo / Rame
Rund 2000 Jahre nach Seneca inszenieren die italienischen Theaterautoren Dario Fo und Franca Rame39 Kontrovers wird die Frage diskutiert, welche Werke, als deren Autor Dario Fo firmiert, von ihm alleine oder zusammen mit seiner Ehefrau Franca Rame verfasst wurden. Wie D’Arcangeli darstellt, handelt es sich bei der künstlerischen Produktion des Ehepaares um einen reziproken Austauschprozess, bei dem die Texte oftmals „vierhändig“ geschrieben werden. Aus diesem Grund erscheint es angemessen, im Folgenden Fo / Rame als Autoren von Tutto casa letto e chiesa zu benennen. Das Stück wurde am 20. November 1977 in Mailand uraufgeführt und umfasst sechs dramatische Monologe. Die Texte wurden 1989 erstmals veröffentlicht. Medea ist die einzige mythologische Figur, die in diesem Werk auftritt. Doch auch die anderen Protagonistinnen, wie eine überlastete Arbeiterin oder eine von ihrem Mann bedrohte Ehefrau, machen auf die Unterwerfung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft aufmerksam und zeigen Desiderate der Emanzipation auf. Zu den Frauenfiguren in den Werken Fos / Rames cf. Luciana D`Arcangeli, I personaggi femminili nel teatro di Dario Fo e Franca Rame, Florenz, Franco Cesati, 2009. Später wird präzisiert, dass eine „Medea popolare“ (Fo / Rame, op. cit., S. 69) gespielt wird. Die Autorschaft dieses Werkes leugnen Fo / Rame im Prolog explizit, indem sie angeben, das Drama gefunden und lediglich herausgegeben zu haben (vgl. ibid., S. 70). Konkrete Bezüge zur Tragödie Senecas finden sich weder im Text noch in paratextuellen Kommentaren des Autoren-Paares.
Zu Beginn skizziert die Schauspieler-Autorin Franca Rame das Sujet des Stückes und betont seine feministische Sprengkraft, ehe sie den Mythos neu erzählt:
Vanno a Corinto, si sposano, hanno due figli e vivono felici e beati. Fino a quando? Ahimè, sorte comune a moltissime donne, fino a quando Medea non incomincia ad invecchiare. Perchè se fra due persone non c’è l’amore, quello “VERO” che è fatto soprattutto di affetto, di rispetto, quando diventi vecchia e perdi le tue attrattive sessuali, sei da sbattere via. E per noi donne è dura! […] È tremendo vedere come noi donne, a qualsiasi ceto sociale si appartenga, risultiamo fragili nel momento in cui siam poste in una simile situazione. Le reazioni che si hanno sono spesso sbagliate, irrazionali.42
Ibid., S. 68.
Franca Rame berichtet zunächst vom Ende der glücklichen Liebesbeziehung zwischen Jason und Medea, das einsetzt, als Medea zu altern beginnt. Dass es sich dabei um ein alltägliches Ereignis handelt, wird explizit hervorgehoben: Rames Darstellung nach geschieht es häufig, dass Männer ihre Ehefrauen wegen einer jüngeren Geliebten verlassen. Schuld daran ist – so der Text – das Altern, ein Prozess, der unweigerlich den Verlust der erotischen Attraktivität mit sich bringt. Franca Rame stellt sich hier deutlich auf die Seite der verlassenen Frauen. Die Formulierung „noi donne“ suggeriert Solidarität und imaginiert eine Gemeinschaft der Frauen als Leidensgenossinnen. Die Handlungen, mit welchen die betrogenen Frauen auf die enttäuschende Demütigung reagieren, beschreibt der Text oftmals als falsch und irrational. Diese implizite Vorausdeutung auf Medeas Kindermord als Reaktion auf Jasons Untreue ist eine erste Strategie der Plausibilisierung, mit welcher versucht wird, diese unfassbare Tat dem Publikum verständlich zu machen.
Trotz des subtilen Hinweises auf den Ausgang der Handlung wird von Anfang an deutlich gemacht, dass weniger Eifersucht und Rache, als vielmehr ein komplexer Bewusstwerdungsprozess im Zentrum der Medea-Tragödie steht: „Non è il drama della gelosia e della rabbia, ma della presa di coscienza43 Ibid., S. 69. Im Gegensatz zum Prolog ist dieser zweite Textteil nicht auf Italienisch, sondern in toskanischem Dialekt verfasst. Diese sprachliche Differenzierung unterstreicht die Zweigliederung des Theaterstückes und hebt zudem die Einfachheit der „Medea popolare“ hervor. Der Einsatz des Dialektes bringt die Sprache des Volkes auf die Bühne, er verleiht den Figuren Authentizität und dem Geschehen eine alltägliche, volkstümliche Konnotation, die mit dem politischen Anliegen Fos / Rames einhergeht, das Theater allen Gesellschaftsschichten zugänglich zu machen. Vgl. dazu auch Helga Jungblut, Das politische Theater Dario Fos, Frankfurt am Main, Lang, 1978 sowie Inge Stephan, Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur, Köln/Weimar/Wien, Böhlau, 2006, S. 161.
Die Frauen, die vor Medeas Haus auf der Straße stehen, beschreiben die Protagonistin anfangs mit folgenden Worten: „Di senno è sortita! Non intende raggione! Pare dalla tarantola beccata, e l’occhi for a delle tempia ha quasi sortiti! 45 Fo / Rame, op. cit., S. 70. Der Name der Braut wird im Stück nicht genannt, was die Figur der Rivalin unbestimmt und vage erscheinen lässt.
Dass sich ihr Mann einer jüngeren Frau zugewandt hat, begreifen die anderen Frauen als Naturgesetz47 D’Arcangeli hebt hervor, dass es gerade die Frauen sind, die Medea zum Wohl ihrer Kinder von der Gültigkeit der gesellschaftlichen Regeln überzeugen wollen (vgl. D’Arcangeli, loc. cit., S. 224). Stephan betont, Medea sei „auf die Position der Empörerin hin konzipiert“ (Stephan, loc. cit., S. 161).
Restare, restare. Sola!, derento cotesta casa mea… sola… come ’na morta, senza voci, senza risa… senza ammore… dello marito, delli figlioli, che tutti s’en vanno a far festa avanti d’averme seppelita. (…) Donne, amiche mee, tremenno uno penziero me s’è fissato derentro el core e derentro allo zervello: accidere debb’io li miei figlioli… e sarò de tutti recordata come matre scellerata… d’orgoglio empazzuta. Ma, meglio è, esser recordata come bestia feroce, che dementecata come cavra mansueta…49
Fo / Rame, op. cit., S. 72.
Medea imaginiert ihr zukünftiges Leben, getrennt von ihrer Familie, als freudlose Existenz, die ihr wie der Tod erscheint. Von dieser negativen Zukunftsvision ausgehend findet nun erstmals der Gedanke an die Tötung der Kinder Erwähnung, der zunächst in ihrem Herzen und dann in ihrem Gehirn entsteht. Der Kindermord wird als Notwendigkeit geschildert, wie der Einsatz des Modalverbs „dovere“ verdeutlicht: „accider debb’io li miei figlioli“. Zum ersten Mal spielt Medea mit dem Gedanken, sich von der „cavra mansueta“ zu einer „matre scellerata“ und zur „bestia feroce“ zu transformieren. Dass Medea diese Entscheidung keineswegs leichtfertig und unüberlegt trifft, zeigen ihre weiteren Ausführungen:
Avante penzai de tollerme la vita a mia, che sopportare non pozzo el penzèro d’essere cacciata fora de la mea casa e de ’sta terra e de ’sto paese, anco se m’è foresto… (…) Vivere vogg’io, ma solamente lo pozzo esser viva se morire fazzo li miei figlioli… la carne mea… meo sangue, la vita mea…50
Ibid., S. 73.
Am Beginn ihrer Überlegungen zieht Medea zunächst den Suizid als Alternative zum Kindermord in Erwägung. Doch ihr Wunsch, zu leben, führt dazu, dass sie diesen Schritt nicht geht. Vielmehr kommt sie zu dem Schluss, dass sie ihr Leben nur dann nach ihren Vorstellungen gestalten kann, wenn sie ihre Kinder tötet. Insbesondere die Formulierung „ma solamente“ unterstreicht die Unumstößlichkeit dieser Entscheidung. Medea bezeichnet ihre Kinder an dieser Stelle als „mei figlioli“, „la carne mea“, „meo sangue“ und „la vita mea“. Diese vier Wendungen heben die enge Verbundenheit zwischen der Protagonistin und ihren Kindern hervor, die vor allem durch die Wiederholung des Possessivpronomens erzeugt wird: Medea bildet eine Einheit mit ihren Nachkommen und betrachtet sie als ihr Fleisch, ihr Blut und ihr Leben.
Im Folgenden offenbart Medea in der Auseinandersetzung mit Jason, der zwar auftritt, aber stumm bleibt, wie sich ihr Verständnis von Mutterschaft im Laufe der Reflexion über ihre Rolle als betrogene Ehefrau verändert hat:
E donna, abbisogna che se contenta d’essere MATRE, che è già gran premio!
E penzavo che ’sta gabbia derentro la quale ci avvete impriggionato, con alligati, incatenati al collo li figlioli, come basto de legno duro alla vacca, per meglio tenerce sotto a noi femmene, manzuete, per meglio poterce mungere, meglio poterce montare…51 Ibid., S. 74.
Medea reproduziert zunächst den Gemeinplatz, die Mutterschaft sei ein „gran premio“. Die anschließenden Ausführungen zeigen jedoch deutlich, dass sie genau das Gegenteil meint: Metaphorisch bezeichnet Medea das Mutter-Sein als Käfig und ihre Kinder als Ketten, die dazu dienen, sie zu unterjochen. Im Bewusstsein dieser Unterdrückung eröffnet sie schließlich Jason die Absicht, ihre gemeinsamen Kinder zu töten52 Unklar bleibt, ob Medea ihre geplante Tat ausführen wird oder ob sie diese bereits begangen hat. Im Text selbst werden Verbformen des Futurs verwendet, wenn von der Kindstötung die Rede ist. Dies spräche dafür, dass die Ermordung am Ende des Stückes noch nicht stattgefunden hat.
Necessità è, che ’sti figlioli a mia abbino a morire perché tu, Giasone, e tue leggi infami abbiate a schiattare!
Armate amiche ’sta mano mea… spigni Medea desperata lo ferro nella carne tenerella delli figli, fanne sangu… dolze…. inzuccherato… Dimentica core meo che so’figlia a ’sta carne… (…) Ed eo, me dirò chiagnendo: “Mori! Mori! Pe’fa’nascere ’na donna nova… Mori! Pe’fa’nascere ’na donna nova!”53
Ibid., S. 74f.
Medea versteht es als Notwendigkeit, dass ihre Kinder sterben müssen, damit Jason und seine infamen Gesetze vernichtet werden. In einer pathetisch anmutenden Anrufung bittet sie ihre Freundinnen, ihre Hand für diese Tat zu bewaffnen. Der geplante Kindermord wird zum Symbol für das weibliche Aufbegehren, das sich jedoch erst vollziehen kann, als sich Medeas Haltung gegenüber ihren Kindern ins Gegenteil gewandt hat. Hatte sie diese zuvor als einen Teil ihrer selbst betrachtet, so negiert sie diese Verbindung nun bewusst: „Dimentica core meo che so’figlia a ’sta carne“. Medea fordert sich selbst auf zu vergessen, dass ihre Kinder ihr eigenes Fleisch und Blut sind. Deutlich wird hier das Ende des Verwerfungsprozesses gezeigt, der sich im Laufe ihres Reflexionsprozesses vollzogen hat: Ihre Nachkommen sind zum Abjekten geworden, das auf dem Weg zu ihrer neuen Identität als Medea verworfen werden muss. Die Möglichkeit, eine neue Identität zu schaffen, setzt indes – wie bei Seneca – die Tötung der Kinder voraus. Im Kindermord wird sie als „donna nova“ wiedergeboren, wie das Verb „nascere“, das zwei Mal im Text genannt wird, metaphorisch anklingen lässt. Durch die Tötung ihrer Kinder erschafft Medea sich selbst. Dies wird insbesondere in der antithetischen Alternanz der Verbformen „mori“ und „nascere“ evident. Bezeichnenderweise endet das Theaterstück mit der oben zitierten Passage, wobei gerade das offene Ende die Selbstkonstituierung der Medea hervorhebt.
* * *
Wie die vorangegangene Analyse gezeigt hat, durchlaufen sowohl Senecas Medea als auch die Medea bei Fo / Rame einen Selbstfindungsprozess, der sie zu Medea macht. Indem sie ihre Kinder, einen Teil ihrer selbst töten, erschaffen beide Figuren ihre Identität neu. Dabei findet in den Texten eine ausdrucksstarke Geburtsmetaphorik Verwendung, mit der einerseits die Genese der neuen Medea verdeutlicht wird, andererseits ein starker Gegensatz zum Kindermord und damit zur Voraussetzung für die Selbstwerdung aufgebaut wird. Im Vergleich zu Senecas Tragödie wohnt dem Stück aus der Feder Fos / Rames wegen der Darstellung der Mutterschaft als Gefängnis eine größere feministische Sprengkraft inne. Medeas Kindermord wird in beiden Stücken als ein Bewusstwerdungsprozess inszeniert, in dem der Figur die Notwendigkeit der Kindstötung immer deutlicher wird. Jason, dem eigentlichen Auslöser des Konflikts, kommt in diesem Moment der Reflexion keine Rolle mehr zu: Medea ist gedanklich allein, auf sich selbst und auf ihre Nachkommen fixiert. Zudem ist der Reflexionsprozess bei Seneca und Fo / Rame von der Tatsache geprägt, dass Medea ihre Haltung zu den Kindern radikal ändert: Während sie diese zunächst als ihr Fleisch und Blut wahrnimmt, fallen die Kinder und damit auch ein Teil ihrer selbst später der Abjektion anheim. Seneca betont dabei das oszillierende Schwanken Medeas im Verlauf ihrer Überlegungen, während Dario Fo und Franca Rame die Bewusstwerdung als eine eher linear ablaufende Entwicklung skizzieren. In La Medea ist es der Rezipient, der in Unsicherheit darüber gehalten wird, ob der Kindermord bereits stattgefunden hat oder noch stattfinden wird. Doch egal ob die unerhörte Tat auf der Bühne gezeigt wird oder nicht, Medeas intensive Entscheidungsszene lässt den Leser Anteil haben am Prozess ihrer Subjektwerdung. So wird Medea zu einer Figur, die sich aktualisiert und dabei für den Zuschauer plausibilisiert – und die sich dadurch selbst nicht so einfach verwerfen lässt.
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