Göttin oder Trickster? – Facetten Medeas bei Robert Graves

Meret Fehlmann
Université de Zurich

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Auteure
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Résumé
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Abstract
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Meret Fehlmann est chercheuse et bibliothécaire scientifique à l’Université de Zurich. Elle a fait des études en folklore, littérature populaire et littérature allemande, et elle a complété une licence sur les figures féminines dans les romans arthuriens modernes avant de soutenir une thèse de doctorat sur le matriarcat, publiée en 2011 sous le titre Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments. Ses recherches et publications portent sur la littérature populaire, le matriarcat et la réception de l’Antiquité. De plus, elle est co-éditrice de la revue open-access kids+media (http://www.kids-media.uzh.ch).

Médée figure au premier plan dans certaines des œuvres de Robert Graves. Ainsi est-elle un des personnages principaux dans son roman The Golden Fleece (1944, une re-narration de la saga des Argonautes). Ce roman peut être lu comme ouverture de sa grande œuvre The White Goddess. Cette œuvre, comme The Golden Fleece, traite de la relation de la déesse avec son adorateur masculin. En échange du don de la poésie, la déesse blanche demande ultimement la mort du mâle. D’une part, il est possible d’interpréter la figure de Médée du roman The Golden Fleece comme une sorte de précurseur de la déesse blanche de la poésie. D’autre part, la Médée présentée dans The Golden Fleece se caractérise aussi comme une figure de « trickster » (filou).

Medea figures in some of the works of Robert Graves. She is one of the main characters in his retelling of the saga of the Argonauts, The Golden Fleece (1944). This book can be read as precursor to his great work, The White Goddess (1948). Both books deal with the relation between the poet and the white goddess or Muse. The white goddess gives the gift of poetry, but in the end asks the death of her male worshipper. On the one hand, it is possible to interpret The Golden Fleece’s Medea as a predecessor of the white goddess; on the other hand, this Medea resembles also the figure of the trickster.


Medea ist zauberkundig und begeht unfassbare Verbrechen: Sie verrät ihre Heimat und ihre Familie, schreckt vor Brudermord nicht zurück und soll ihre Kinder eigenhändig getötet haben. Wegen dieser Taten zählt sie zu den Alptraumfrauen des Patriarchats und polarisiert und fasziniert bis heute. So erstaunt es wenig, dass es im ausgehenden 20. Jahrhundert verschiedene Bearbeitungen und Aktualisierungen des Medea-Stoffes gab, die sich der Umdeutung und Rehabilitation der Figur aus einer weiblichen, sprich feministischen Warte annahmen, die häufig auf den Aspekt des Infantizids fokussierten, indem sie Medea in den Diskurs um Frauenleben und Mutterliebe nicht mehr nur als negatives Beispiel integrierten1

Siehe z.B. die Studie von Marie Carrière, Médée protéiforme, Ottawa, Presses de l’Université d’Ottawa, 2012, S. 177.

. Eine Umschreibung der Figur der Medea, um sie zu rehabilitieren, ist aber keine neue Erscheinung des späten 20. Jahrhunderts. Unter anderem hat sich in den 1940er Jahren Robert Graves (1895-1985) mit diesem Ziel der Medea angenommen. Medea findet in seinen mythologische Themen behandelnden Büchern wie The White Goddess (1948) oder The Greek Myths (1955) mehrfach Erwähnung. Beide Titel sind vielbeachtet und werden in esoterisch angehauchten Kreisen, die sich der Wiederbelebung der Religion der grossen Göttin verschrieben haben, bis auf den heutigen Tag als wichtige Quellen für eine entsprechende Rekonstruktion rezipiert. In Robert Graves’ Werk tritt Medea als Frau und Priesterin sowie als Göttin im eigenen Recht auf.

Im Folgenden steht Robert Graves’ Beschäftigung mit der Figur Medeas im Zentrum. Um seine Interpretationen von Medea als Göttin, Zauberpriesterin und/oder Frau besser zu verstehen, erfolgt erst ein Blick auf sein Werk und seine wirkmächtigen Vorstellungen über die grosse Göttin, bevor auf seine Interpretation und Umdeutung Medeas eingegangen wird.

Von Göttinnen und Männern – zum Werk von Robert Graves

Einige Worte zu Robert Graves’ vielfältigem Werk, das Gedichte, historische Romane und mythenforschende Schriften umfasst, helfen, seine Deutung Medeas besser zu verorten. Die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Textgattungen sind in seinem Fall komplex. Auffallend ist, dass sich die Forschung zu Medea meist mit dem Hinweis auf The White Goddess2

Robert Graves, The White Goddess, London, Faber & Faber 1997, später WG.

und The Greek Myths3

Robert Graves, The Greek Myths, Band 1 & 2, London, Penguin, 1955, später GM.

begnügt. In beiden Werken wird Medea als Helferfigur unterschiedlicher antiker Heroen und als Liebesinteresse von Zeus erwähnt, ihre Geschichte selbst wird nicht im Detail verhandelt4

Siehe GM, Band 1: 217, 315, 323, 333f., Band 2: S. 161, 220, 254. Siehe WG, S. 123f.

. Bereits 1944 veröffentlichte Graves mit The Golden Fleece5

Robert Graves The Golden Fleece, London, Cassel, 1944, später GF.

eine Nacherzählung der Argonautensaga, bei der Medea bekanntlich eine zentrale Rolle einnimmt. Das darin von ihm entworfene Porträt Medeas ist facettenreicher als in den obigen Titeln. Zugleich kann dieser Text auch als Wegbereiter oder Vorläufer für das zentral in The White Goddess behandelte Thema der Beziehung zwischen der weissen Göttin der Dichtkunst, respektive der Muse und dem Dichter gelesen werden.

Die relative Unbekanntheit von The Golden Fleece passt zum Befund, dass Graves’ mythenforschende Texte bis heute im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Seine historischen Romane, für die er bei der Leserschaft ebenso bekannt ist, führen in der Forschung tendenziell ein Schattendasein. Der Zusammenhang und die gegenseitige Beeinflussung dieser beiden Schreibtraditionen sind bis heute wenig untersucht6

John Smeds, Statement and Story. Robert Graves’s Myth-making, Diss. Åbo, Åbo, Åbo???? Dreimal? (Einmal Angabe, dass es sich um eine in Åbo entstandene Disseratation handelt, zweite Nennung = Verlagsort, dritte Nennung = Name der Druckerei = 3 Nennungen!) Akademi University Press, 1997, p. 2, 19.

. Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Gattungen ist für die Figur der Medea aufschlussreich, da Graves in seinen Schriften differierende Deutungen dieser Figur entwirft, gerade was deren numinosen Charakter ausmacht.

Seine mythographische Schrift The White Goddess entpuppt sich immer wieder als Dreh- und Angelpunkt in seinem Werk und Denken in Bezug auf Göttinnen sowie ihre Bedeutung für Religion und Kultur. Der Einfluss der Schrift ist besonders auf seine zeitgleich in den 1940er Jahren entstandenen Werke deutlich. Das gilt für seine Nacherzählung der Argonautensaga The Golden Fleece und den Science-Fiction- oder Zukunftsroman Seven Days in New Crete (1949), der von der konkreten Umsetzung der Religion und der Gesellschaft der grossen Göttin in der nahen Zukunft nach dem Untergang des Abendlandes handelt.

Robert Graves war seit seinem Buch My Head, my Head (1924) von der einstigen Existenz eines Matriarchats, das im religiösen Bereich vom Kult einer Muttergöttin begleitet war, überzeugt. Einerseits spiegelt sich in dieser Begeisterung und Hochschätzung einer matriarchalen Vergangenheit eine Desillusionierung sowie ein Protest über den Ersten Weltkrieg wider, in dem Graves gekämpft hatte, und das damit einhergehende Ende der bekannten Welt. Das Matriarchat dient als utopischer Gegenentwurf zur als kalt empfundenen und von Entfremdung gekennzeichneten Gegenwart. Andererseits kann der Bezug auf das Matriarchat vom Ende des 19. Jahrhunderts bis mindestens in die 1920er Jahre hinein als eine verbreitete Haltung innerhalb gebildeter Kreise Europas und Nordamerikas gelten7

Richard Perceval Graves, Robert Graves and The White Goddess 1940-1985, London, Weidenfeld & Nicolson, 1995, S 57f.

. Zudem zählte in den frühen 1920er Jahren der Anthropologe und Psychologe William H. R. Rivers (1864-1922) zu Graves’ Freunden. Rivers galt nicht nur als Autorität für die Behandlung von Kriegsneurosen, sondern war auch als profunder Kenner matriarchaler Gesellschaftsformen bekannt8

Grevel Lindop, “The White Goddess. Sources, Contexts, Meanings”, in Ian Firla und Grevel Lindop (Hg.), Graves and the Goddess. Essays on Robert Graves’s The White Goddess, Selinsgrove, Susquehanna University Press, 2003, S. 25-39, S. 29.

. Graves‘ Argonautensaga The Golden Fleece muss vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Er sieht als Kern des Argonautenmythos eine verborgene historische Wahrheit, die vom konfliktreichen Übergang des Matriarchats unter der Herrschaft der Erdgöttin zum Patriarchat mit seinen männlichen Himmelsgottheiten handelt. Zur andauernden (heute vor allem noch in esoterischen Kreisen) Verbreitung dieser Vorstellung über das vorklassische Griechenland haben unter anderem seine Werke beigetragen, wobei Graves auf zahlreiche Vordenker zurückgriff, um sein Bild der Vergangenheit auszumalen. The Greek Myths erschien Mitte der 1950er Jahre, zu einem Zeitpunkt als klassische Mythologie mehr als Kinderthema denn als geeignete Lektüre für Erwachsene galt, so konnte seine an ein breites Publikum gerichtete Bearbeitung eine Lücke füllen9

John Woodrow Presley, “Narrative Structure in Graves’ Historical Fiction”, Gravesiana, Jahrgang 1, Heft 3, 1997, (Zugriff am 19. 07. 2015), S. 292.

. Zudem hat sich Graves seit den 1930er Jahren als Autor historischer Romane und als Übersetzer antiker Texte einen Namen gemacht10

Zu den historischen Romanen mit antikem Hintergrund aus der Zeit zählen: I, Claudius (1934), Claudius the God (1934), Count Belisarius (1938), The Golden Fleece (1944). Zu den Übersetzungen zählt Apuleius’ Metamorphosen auch bekannt als Der goldene Esel. Dabei handelt es sich um den einzigen aus der Antike überlieferten Text, der ein Bild der Göttin als Verkörperung der Natur, wie es heute gängig ist, entwirft.

. In der Folge betrachtete ihn das breite Publikum als ausgewiesenen Kenner der Antike. Die bereits kurz nach Erscheinen einsetzende Kritik an The Greek Myths durch die Fachwelt konnte diese Einschätzung nicht ändern11

Michael W. Pharand, “Greek Myths, White Goddess. Robert Graves Cleans Up a Dreadful Mess”, in Ian Firla und Grevel Lindop (Hg.), Graves and the Goddess. Essays on Robert Graves’s The White Goddess, Selinsgrove, Susquehanna University Press, 2003, S.183-191, S. 183; Michael W. Pharand, “Poetic Mythography. The Genesis, Rationale and Reception of The Greek Myths”, Gravesiana, Jahrgang 1, Heft 3, 2007, (Zugriff am 19. 07. 2015), S. 56f.

.

Mindestens seit Ende 1943 beschäftigte sich Graves mit dem Thema der Rolle des Dichters in der Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart, Frucht davon ist The White Goddess. Das Buch besteht aus 27 Kapiteln, die sich in drei Hauptthemen einteilen lassen: Über das poetische Denken, den Göttinnenkult als erste Religion der Menschheit (die beiden ersten Kategorien sind oftmals untereinander verbunden) sowie Miszellen, die als persönliche Visionen und Träumereien zu betrachten sind. Am Besten versteht man das Werk wohl als zwei Bücher in einem, bestehend aus einem ersten Text, der sich des poetischen Denkens annimmt und einem zweiten Text über antike und/oder prähistorische Religion. Beide Bereiche sind geschickt miteinander verwoben, indem Graves das Erschliessen des antiken Materials als Beispiel für poetisches Denken dient, und er dieses zugleich als Rest antiker Religion deutet, dem es in Form von Poesie gelungen ist, sich in die moderne Welt zu retten12

Lindop, loc. cit., S. 33-35.

.

Die namensgebende weisse Göttin sieht Graves als Göttin der Dichtkunst oder Muse. Dichtkunst wiederum versteht er als Anrufung der Muse:

My thesis is that the language of poetic myth anciently current in the Mediterranean and Northern Europe was a magical language bound up with popular religious ceremonies in honour of the Moon- Goddess, or Muse, some of them dating from the Old Stone Age, and that this remains the language of true poetry […]13

WG, S. xlv.

.

Dichtung und Religion gehen nach ihm Hand in Hand. Diese älteste Religion der Menschheit war laut Graves im gesamteuropäischen Raum verbreitet und huldigte einer Göttin, deren drei Erscheinungsformen für die biologischen Etappen im Leben einer Frau als Mädchen/Jungfrau, Mutter und postmenopausale Frau stehen. Diese Vorstellung über die Erscheinungsformen der Göttin übernahm er von der einflussreichen Klassizistin Jane Ellen Harrison (1850-1928), deren Einfluss deutlich in Graves’ Werk spürbar ist. Nach Graves bringt der dritte Aspekt der Göttin – oft als alte Frau imaginiert – Zerstörung, Schmerzen und Tod, zugleich vergütet die Göttin ihre Anbeter mit der Gabe der Poesie, die nach ihm das edelste Geschenk der Göttin darstellt.

Es muss festgehalten werden, dass Graves’ Vorstellungen über Dichtkunst und Geschlechterrollen konservativ und heteronormativ sind. In einer solchen Haltung spiegelt sich bis zu einem gewissen Grad die Ernüchterung über die durch den Ersten Weltkrieg untergegangene Welt und ein Unwohlsein in der Moderne mit ihren raschen Veränderungen. Mit einer als nostalgisch zu betrachtenden, von Sehnsucht nach Göttinnen und wahrer Poesie getriebenen Vision einer einstigen, heilen Welt versucht er, den Erscheinungen der Moderne etwas Anderes entgegenzusetzen. Die Göttin und ihre Gesellschaftsform – das Matriarchat – sind für ihn in einem fern von der Gegenwart gelegenen, zeitlosen Raum angesiedelt14

Meret Fehlmann, Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments, Diss. Universität Zürich, Zürich, Chronos, 2011, S. 123-125. Zu Graves‘ Ablehnung von Homosexualität siehe besonders WG, S. xlviif., S. 754. Seite 754 enthält auch die problematischen Ausführung zur Frau als Dichterin: „However, woman is not a poet: she is either a muse or she is nothing“.

. Dies hat zur Folge, dass er zwar die Frau als Muse und Göttin auf einen Podest erhebt, zugleich wird Weiblichkeit noch deutlicher zum „Anderen“, das ausserhalb der Kultur und Gesellschaft steht und dem eine eigene Stimme verwehrt wird15

Margot Adler, Drawing Down the Moon. Witches, Druids, Goddess-Worshippers and Other Pagans in America Today, Boston, Beacon Press, 1981, S. 208; Susanne Lanwerd, Mythos, Mutterrecht und Magie. Zur Geschichte religionswissenschaftlicher Begriffe, Berlin, Reimer, 1993, S. 62.

.

Von einer Göttin zu vielen Göttinnen

Robert Graves versteht, so erstaunlich das erscheinen mag, die Argonautensaga weniger als Mythos denn als historische Wahrheit. Er nimmt eine Deutung der Mythologie auf, wie sie bereits Heinrich Schliemann (1822-1890) für Troja und Arthur Evans (1851-1941) für das bronzezeitliche oder minoische Kreta propagierten und mit ihren Ausgrabungen stark popularisierten16

Siehe zu Troja und Schliemann nur einige Titel mit neuerem Erscheinungsdatum: Birgit Brandau, Troia. Eine Stadt und ihr Mythos. Die neuesten Entdeckungen, Bergisch Gladbach, Lübbe, 1997; Michael Siebler, Troia. Mythos und Wirklichkeit, Stuttgart, Reclam, 2001; Frank Kolb, Tatort Troia. Geschichte, Mythen, Politik, Paderborn, Ferdinand Schöningh, 2010, zu Kreta besonders Yannis Hamilakis (Hg.): “Archaeology and European Modernity. Producing and Consuming the ‘Minoans’”, Creta Antica, Jahrgang 7, 2006 oder Cathy Gere, Knossos and the Prophets of Modernism, Chicago, University of Chicago, 2009.

. Evans’ Einfluss auf die Vorstellung des bronzezeitlichen Kretas, respektive Griechenlands als Hort der Kultur und des Friedens unter der Herrschaft der grossen Göttin ist bis heute fast ungebrochen. Auch Graves trug mit seinem Schaffen zur Popularisierung dieser Vorstellung bei. The Golden Fleece ist eine nahe an antike Quellen angelehnte Nacherzählung der Fahrt der Argonauten. Er bezieht sich stark auf Apollonius (40-120 n. Chr.), bei dem angelegt ist, dass der Infantizid Medeas ein Gerücht sei17

Paul Dräger, “Medea”, in Hubert Cancik and Helmuth Schneider (Hg.), Brill’s New Pauly, (Zugriff am le 18. 01. 2015); J. R. Bacon, “The Golden Fleece. Robert Graves: The Golden Fleece”, The Classical Review, Jahrgang 59, Heft 2, 1945, (Zugriff am 18. 01. 2015), S. 78.

. Als Auslöser für die Handlung dient bei Graves ein Streit zwischen der grossen Göttin und ihrem Sohn Zeus. The Golden Fleece ist einerseits eine Klage über den Untergang der Göttin, ihrer Religion und Gesellschaft. Andererseits lässt sich der Text als Abenteuerfahrt oder -roman lesen, denn nach dem das Thema bestimmenden Prolog fokussiert der Text auf die Erlebnisse der 50 Argonauten. In Anbetracht der Tatsache, dass Graves dem Sakralen und Mythischen in seinem Schaffen einen wichtigen Platz einräumt, fällt auf, dass er in der Nacherzählung der Fahrten der Argo einem rationalisierenden Duktus folgt. Übernatürliche Episoden deutet er in rationalistischer Manier, einzig die grosse Göttin ist von diesem Interpretationsmuster ausgenommen18

Graves, op. cit., S. 61.

.

Nach seiner Auffassung haben Invasionen patriarchaler Stämme die Macht der Göttin auf dem griechischen Festland geschwächt. Noch kann sie sich ihren Anhängern und Anhängerinnen in Person nähern, um ihren Entschluss, als streitsüchtige Frau von Zeus dem griechischen Pantheon beizutreten, zu erläutern:

Now, it has suited my humour to enter the Olympian family as Zeus’s wife, rather than to remain outside as his enemy; I can lead him an insufferable life by my nagging and spying and mischief-making […]. And my self-multiplication into his divine sisters and daughters increases his difficulties.19

GF, S. 71f.

In dieser Deutung, dass sie nicht nur die Form und Funktion von Hera übernommen, sondern sich zugleich in alle anderen weiblichen Gottheiten – also auch Medea – des griechischen Pantheons verwandelt oder gespalten hat, wird erstens Bezug genommen auf die Idee, dass alle Göttinnen Teilaspekte der grossen Göttin sind, zweitens findet eine Perpetuierung statt der um 1900 von der Altertumswissenschaftlerin Jane Ellen Harrison propagierten Vorstellung, dass die Mythen und Überlieferungen des griechischen Altertums Ausdruck des Übergangs einer matriarchalen zu einer patriarchalen Gesellschaft seien, was sich besonders im religiösen Bereich in einem Wechsel von weiblichen Erdgottheiten zu männlichen Himmelsgottheiten manifestiere. Besonders ihr Buch Prolegomena to the Study of Greek Religion20

Jane Ellen Harrison, Prolegomena to the Study of Greek Religion, Princeton, Princeton University Press, 1991 (reprint 1903).

, das bald nach seinem Erscheinen zur Pflichtlektüre für Klassizisten in Cambridge wurde, sorgte für die Verbreitung dieser Vorstellung unter der nachfolgenden Generation, zu der auch Graves zählt21

Fehlmann, op. cit., S. 115-119.

. Die Deutung des vorklassischen Griechenlands als von einer matriarchalen Kultur und Religion geprägt, verbindet sich gut mit Graves’ Weltbild und Denken, die von einer Sehnsucht nach Göttinnen geprägt sind. In seiner Interpretation der Vergangenheit berücksichtigt er nicht, dass die rund 40 Jahre, die sein Werk von den Überlegungen Harrisons trennen, in der Wissenschaft zu anderen Deutungsansätzen der Antike geführt haben, so dass er eine veraltete Vorstellung über das vorklassische Griechenland propagiert, die (nicht nur) über seine Vermittlung bis heute weiterlebt22

Vgl. hierzu die Romane von Evangeline Walton, The Sword is Forged (1982), Christa Wolf, Kassandra (1983), Marion Zimmer Bradley, The Firebrand (1987), Christa Wolf, Medea.Stimmen (1996) oder Michelle Pavers Jugendbuch-Serie Gods and Warriors (ab 2012) etc.

.

Erste Lesart: Medea als weisse Göttin

In Kolchis, wo das goldene Vlies verwahrt wird, am Ziel ihrer Reise angekommen, wartet auf die Argonauten die Begegnung mit Medea: “She is a strange woman, in whose presence it is difficult to keep one’s equanimity: sometimes she behaves like a sweet-tempered child, sometimes like the terrible Mother herself when she dances in ecstasy on her heap of skulls.23

GF, S. 231.

” Die Beschreibung zeigt Medea nicht nur als Priesterin der grossen Göttin, sondern zugleich als deren Verkörperung, die deren unterschiedliche Aspekte – von der sanftmütigen Jungfrau bis zur furchterregenden Furie, wenn sie auf den Schädeln der ihr zu Ehren Geopferten tanzt – besitzt24

Ibid., S. 266.

. Im weiteren Verlauf nimmt Medea die verschiedenen Erscheinungsformen der grossen Göttin an. Zudem zeichnet sich in dem Zitat ab, was Robert Graves dann in The White Goddess ausarbeitet: Die grosse Göttin ist verschlingend und gefährlich, am Ende verlangt sie den Tod des männlichen Adoranten.

Die Nähe von Medea zur weissen Göttin ergibt sich auch aus ihrem Äusseren: “Medea has a round chin, yellow ringlets of hair […], voluptuous lips, amber-coloured eyes, a slightly hooked nose, and the neatest ankles in Colchis. 25

Ibid., S. 232.

” Die blonden Haare, die verführerischen Lippen sowie die leichte Hakennase weisen diese Medea als ein vorweggenommenes Abbild der weissen Göttin aus: “The Goddess is a lovely, slender woman with a hooked nose, deathly pale face, lips as red as rowan-berries, startlingly blue eyes and long fair hair […].26

WG, S. 14.

” Spätestens seit der Mitte der 1950er Jahren hat sich in Bezug auf die weisse Göttin auch eine biographische Lesart verfestigt, wonach sich dahinter ein Porträt der Dichterin Laura Riding (1901-1991), Graves’ langjährigen Geliebten und Mitarbeiterin, verberge27

Paul O’Prey, “The White Goddess. A Proselytizing Text”, in Ian Firla und Grevel Lindop (Hg.), Graves and the Goddess: Essays on Robert Graves’s The White Goddess, Selinsgrove, Susquehanna University Press, 2003, S. 125-133, S. 125f.

.

Mit den blonden Haaren scheint Medea eine Verkörperung der „Whiteness“ zu sein. Bei Graves wird das Nordische noch zusätzlich betont, denn seine Medea(s) weisen jeweils eine Verbindung zu Hyperborea auf. Entweder gibt sie selbst vor, eine hyperboreische Göttin zu sein oder Graves bringt sie mit der walisisch-keltischen Unterweltsgöttin Ceridwen in Verbindung28

Siehe GF, S. 351, WG, S. 123f.

. Diese Wandlung Medeas ist umso erstaunlicher, da sie praktisch von Anfang an als prototypische Vertreterin des „Anderen“ – als Frau und als Orientalin – interpretiert wurde. Der Osten kann auf eine lange Tradition als Ort des Anderen und des Fremden, der Gefahr und der Magie zurückblicken29

J.O. de G. Hanson, “The Secret of Medea’s Success”, Greece and Rome, Second Series, Jahrgang 12, Heft 1, 1965, , (Zugriff am 01. 01. 2015), S. 54; Paul Dräger, loc. cit. (Zugriff am 18. 01. 2015). Zur Vorstellung der Frau als das „Andere“ siehe das grundlegende Werk von Simone de Beauvoir Le deuxième sexe (1949); zum Orientalismus, der den Orient und seine Bewohner und Bewohnerinnen als das „Andere“ inszeniert und deutet, siehe Edward Saids Orientalism (1978). Zur Kritik des Konzepts der „Whiteness“, welche die klassische Antike als europäische Herkunftskultur zelebriert, aber keine kulturellen Einflüsse der orientalischen Hochkulturen gelten lässt, vergleiche das dreibändige Werk Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization von Martin Bernal.

.

Fast alle Teilnehmenden der Argonautenfahrt nehmen ein unglückliches Ende. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Medea, die in der Version von Graves keinen Infantizid begeht. In der Forschung wird teilweise postuliert, dass die keinen Kindermord begehende Medea Reste prähistorischer Göttinnenkulte reflektiere30

Carrière, op. cit., S. 18, Griffiths, op. cit., S. 30.

. Bei Medea als degradierter Göttin handelt es sich um eine Graves gefällige Vorstellung, denn er macht deutlich, dass Medea für ihn als Verkörperung und irdische Vertretung der grossen Göttin gelte. Es zeichnet sich in seinem Verständnis der Göttin und dem vorliegenden Porträt der vom Vorwurf des Infantizids bereinigten Medea ein Widerspruch ab, denn ihm gilt die Göttin als Verschlingerin der ihr huldigenden Männer sowie des eigenen Nachwuchses31

Vgl. WG, S. 14-17, zu Tieren, die ihren Nachwuchs töten und fressen als Verkörperung der Göttin, siehe z.B. S. 140, 358.

. Indem er Medea vom Kindsmord entlastet, schreibt er ihre Geschichte so um, dass sie für die Leserschaft als ideale Mutter erscheint. Dieser Zug Medeas wird zusätzlich betont, indem sie ihren Kindern Unsterblichkeit schenken will. Das Erlangen von Unsterblichkeit wiederum ist motivisch mit ihrer (vermeintlichen) Verjüngung der Könige Aison und Pelias verwandt. Dadurch versetzt er Medea einmal mehr in den Wirkungsbereich einer Göttin, da sie die Naturgesetze zu umgehen vermag. Zugleich wird dieser Wunsch Medeas nach Unsterblichkeit für die eigenen Kinder als Hybris dargestellt, da sie die den Menschen gesetzten Grenzen überwinden will. In Graves’ Version folgt die Strafe auf dem Fusse, ihr magisches Treiben erweckt den Zorn der Bewohner Ephyras, wohin Jason und Medea geflüchtet sind, aus Rache töten diese die Kinder.

Besonders hart trifft das Schicksal oder der Zorn der Göttin Jason, der durchgängig als nachlässiger Anführer beschrieben wird. Seine grösste Gabe besteht darin, dass alle Frauen, die seinen Weg kreuzen, ihm verfallen. Er altert vor der Zeit und verliert sein gutes Aussehen, dem er seinen Erfolg zu verdanken hat:

For though still in the prime of life, according to years, Jason had aged greatly since his quarrel with Medea. His gum had festered and he had lost several of his sharp white teeth; he was lame with rheumatism; and his once beautiful hair had lost its lustre and was streaked with grey.32

GF, S. 369.

Dieser vorzeitige Alterungsprozess greift unter negativen Vorzeichen das Thema der Verjüngung auf. Jason wird als körperliches Wrack und ganz von der Göttin – und Medea als deren Vertreterin – verlassen gezeigt, die ihre schützende Hand entzogen hat, so dass er von rachsüchtigen Geistern aus seiner Jugend erschlagen wird. Zwei Ausnahmen von diesem Muster des unguten Todes gibt es unter den Männern; beide erleiden zwar einen gewaltsamen Tod – aber zu Ehren der grossen Göttin. Die zwei Episoden markieren zudem Beginn und Ende der Nacherzählung, mit dieser Erzählkonstruktion wird das Thema des Kultes der grossen Göttin zusätzlich betont. Der Text setzt mit der Ankunft Ancaeus’ auf den Hesperiden ein. Auch wenn er selbst an den alten Wegen der Göttin festhält, will die dortige Priesterin ihn und sein Wissen über die neuen Sitten der Griechen nicht leben lassen. Er stirbt einen als ehrenhaft verstandenen Tod als heiliges Opfer der Göttin. Ebenso tritt das Ende des Sängers Orpheus durch die stellvertretenden Hände der Göttin ein. Er wird somit zum Proto-Typen des Musendichters:

Orpheus also died a violent death. The Ciconian women one night tore him to pieces during their autumnal orgies in honour of the Triple Goddess. Nor is this to be wondered at: the Goddess has always rewarded with dismemberment those who love her best, scattering their bloody pieces over the earth to fructify it, but gently taking their astonished souls into her keeping.33

Ibid., S. 371.

Mit diesem Satz endet das Buch und verstärkt nochmals das Motiv der grossen Göttin und des ewigen Zyklus von Leben und Tod, das Thema, das Graves dann in The White Goddess in aller Breite ausführt.

Zweite Lesart: Medea als Trickster

Jedoch eröffnen sich zusätzliche Facetten durch eine weitere Lesart des Buches, welche durch den rationalisierenden Ansatz, der in weiten Teilen von The Golden Fleece spürbar ist, vorgegeben wird. Interessanterweise macht dieser sachlich-realistische Ansatz vor Medea selbst nicht Halt, die als magisch bewanderte Helferfigur eine wichtige Stellung innerhalb der Argonautensaga einnimmt. Nach der Überlieferung gilt Medea als grosse Zauberin. Bei Graves wird von ihr berichtet, dass sie – auch auf sich bezogen – dem Zustand der Jungfräulichkeit eine Vergrösserung der magischen und heilkundigen Kraft der Frau zuspricht: “[…] virginity endows a woman with extraordinary powers in witchcraft and medicine. Wild beasts or serpents have no power to hurt a virgin and she can safely pluck leaves and dig roots that is the death for men or their wives to touch. 34

Ibid., S. 231f.

” Die Huldigung der Jungfräulichkeit betont eine Lesart, wonach Medea bei ihrem ersten Auftreten als Verkörperung der jungfräulichen Göttin zu gelten hat. Zudem ist die Vorstellung, dass Jungfräulichkeit Frauen mit magischem Prestige ausstattet und damit besondere Glücks- und Zauberkraft verbunden sind, die mit ihrem Verlust ebenso verschwinden, ein weit verbreitetes Motiv35

Frauke Wedler, “Jungfrau, Jungfräulichkeit“, in Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 7, Berlin, de Gruyter, 1993, S. 782-791, S. 784.

.

Medeas Handlungen scheinen jedoch über weite Strecken mehr Trick und Vortäuschung, denn Magie oder Zauber zu sein. Ihre für den Verlauf der Argonautenfahrt entscheidenden Taten setzen erst nach ihrer Verliebtheit in Jason ein, vielleicht ist dieses Entflammen in Liebe bereits mit dem Verlust der Jungfräulichkeit und damit ihrer magischen Macht, wie sie selbst befürchtet, gleichzusetzen. Jedenfalls ist es ihre Schlauheit, die mehrfach die Rückfahrt der Argo sichert. Medeas Taten bestehen aus Vortäuschung, wenn sie z.B. König Pelias und seine Töchter überzeugen kann, dass sie ihm dank ihres magischen Kessels zu erneuter Jugend verhelfen kann. Für diese Täuschung bedient sie sich auch ihrer Schauspielkünste, indem sie als alte Frau verkleidet auftritt und eine dramatische Verjüngung durchlebt, an deren Ende sie in ihrer normalen Gestalt als junge Frau erscheint36

Siehe GF, S. 351f.

. Bereits früher im Verlauf des Buches präsentiert sich Medea als Verwandlungskünstlerin, wenn sie als „old hag37

Ibid., S. 244.

“ – also als dritter Aspekt der Göttin – erscheint und die Krankenpflege Jasons übernimmt. Die Wortwahl „hag“ ist wohl nicht zufällig, damit ist im Englischen nicht nur „alte Frau“, sondern auch „Hexe“ gemeint38

Zur Herleitung und Bedeutung des althochdeutschen Wortes Hagazussa, das die gleiche Herkunft hat wie das Englische hag, siehe Claude Lecouteux, „Hagazussa – Striga – Hexe“, Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Neue Folge 18, 1985, S. 57-70, S. 58-65.

. Die Tradition, Medea als Hexe oder Zauberpriesterin zu sehen, geht bis in die Antike zurück. Unabhängig davon, ob Medea als Sterbliche, Priesterin oder gar Göttin dargestellt wird, ihr wohl wichtigstes magisches Utensil ist der Kessel. Der Kessel ist sowohl literarisch als auch ikonographisch seit Jahrhunderten mit der Hexe verbunden39

Diane Purkiss, The Witch in History. Early Modern and Twentieth-Century Representations, London, Routledge, 1996, S. 211-215.

.

Medea bedient sich eines magischen Kessels, um Männer zu verjüngen – oder vorzugeben, das zu können. Bei ihr ist es aber nicht so sehr eine Verjüngung, sondern Tod und Auferstehung in junger Form, was sie mit ihren Zauberstücken bezweckt40

Griffiths, op. cit., S. 41, 45-47.

. Da die grosse Göttin als Herrin über den Kreislauf von Leben, Tod und Auferstehung gilt, kann Medea wiederum als eine ihrer Stellvertreterinnen verstanden werden. Unter diesem Blickwinkel kann eventuell der gewaltsame Tod ihrer Söhne und ihres Bruders durch ihre Hände gedeutet werden: Es handelt sich um Opfer zu Ehren der grossen Göttin. Diese Tötungen nähmen dann das rituelle Schema des Todes (und der Auferstehung) des Begleiters der Göttin im Laufe des Jahres auf.

Das folgende Zitat aus The White Goddess verdeutlicht das Interpretationsschema von Graves. Er betont den Kessel als wichtiges Attribut Medeas. Zugleich wird deutlich, wie er Göttinnen unterschiedlicher Provenienz als untereinander austauschbar annimmt:

However, the cauldron of Caridwen was no mere witch’s cauldron. It would not be unreasonable to identify it with the cauldron depicted on Greek vases, the name written above Caridwen being ‘Medea’, the Corinthian Goddess who killed her children, as the Goddess Thetis also did. In this cauldron she boiled up old Aeson and restored him to youth; it was the cauldron of rebirth and re-illumination. Yet when the other Medea, Jason’s wife, played her famous trick (recorded by Diodorus Siculus) on old Pelias of Iolcos, persuading his daughters to cut him up and stew him back to youth and then calmly denouncing them as parricides, she disguised her Corinthian nationality and pretended to be an Hyperborean Goddess.41

WG, S. 123f.

Es zeigt sich, dass bei Graves die Grenzen zwischen der göttlichen und der zauberkundigen, durchaus menschlichen Medea immer fliessend sind. Je nach Blickwinkel hat Medea etwas von einer Trickstergestalt, die geschickt Personen und Situationen zu ihrem oder Jasons Nutzen zu manipulieren weiss.

Der Begriff Trickster tauchte erstmals im 18. Jahrhundert auf und fand Verwendung als Bezeichnung für jemanden, der betrügt. Besonders im 20. Jahrhundert hat sich eine Verwendung des Terminus für literarische und mythologische Gestalten durchgesetzt. Der Mythenforscher Karl Kerényi (1897-1973) übertrug den Tricksterbegriff auf die Antike (als Inbegriff des Tricksters gelten der Gott Hermes und der Kulturbringer Prometheus, auch gewisse weibliche Figuren und Göttinnen der klassischen Antike wie Athene, Hera, Pandora oder die Zauberin Circe sollen dazu gezählt werden) 42

Vgl. Thomas Geider, „Trickster“, in Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 13, Berlin, de Gruyter, 2008, S. 913-920, S. 917; Marilyn Julich, „The Female Trickster – Known as Trickstar – as Exemplified by two American Legendary Women, ‘Billy’ Tipton and Mother Jones”, Journal of American Culture, 1999, S. 69-75, S. 69.

. Nach Claude Lévi-Strauss (1908-2009) steht der Trickster für die Verkörperung oder Vereinigung von Binär-Oppositionen, er ist ein Grenzgänger, der ausserhalb der herrschenden, von einer Kultur oder Gesellschaft anerkannten Grenzen steht und agiert. Als Aussenseiter ist der Trickster zwischen den Zeiten und Kulturen angesiedelt, in seiner Gestalt scheinen göttliche und menschliche Züge auf, er ist somit von zweideutigem Wesen43

William J. Hynes, “Mapping the Characteristics of Mythic Tricksters. A Heuristic Guide”, in: William G. Doty und William J. Hynes (Hg.), Mythical Trickster Figures: Contours, Contexts, and Criticisms, Tuscaloosa, The University of Alabama Press, 1993, S. 33-45. S. 34-37.

. Diese Vermischung der Eigenschaften zeichnet Medea aus. Die Unsicherheit ihr „wahres“ Wesen betreffend, findet sich nicht nur bei Graves, sondern ist auch traditionellerweise Bestandteil ihrer Charakterisierung. Es handelt sich um keine neue Medea, die Graves entwirft, denn eine Interpretation Medeas als Trickster lässt sich bereits für die römische Antike nachweisen. Die Figur der Medea war damals populär und ihre Geschichte wurde in unterschiedlichen literarischen Gattungen weitergedichtet, besonders Cicero erwähnt Medea als Modell für Schlauheit44

Siehe Gesine Manuwald, “Medea. Transformations of a Greek Figure in Latin Literature”, Greece & Rome, Jahrgang 60, Heft 1, 2013, (Zugriff am 21. 01. 2015), S 125f.

.

Ein vordergründiges Problem ergibt sich bei der Deutung Medeas als Trickster, denn dieser gilt in der Regel als männlich. Wie Marilyn Julich zur Figur des weiblichen Tricksters – von ihr Trickstar genannt – schreibt, ist diesen ein Widerstand gegen die sozialen Umstände und die Fähigkeit gemein, Sozial- und Machtstrukturen zu ihren Gunsten zu manipulieren45

Julich, loc. cit., S. 69.

. Die Gegebenheiten kann Medea zu ihrem und vor allem Jasons Vorteil ausspielen, bei den Machtstrukturen jedoch scheitert sie, da sie als Frau und Fremde im besten Falle geduldet wird.

Es drängt sich die Frage auf, was Graves mit einem in dieser Richtung deutbaren Porträt Medeas bezweckte. Dazu sei ein Rückgriff auf weitere Frauengestalten in The Golden Fleece erlaubt, die ebenfalls Züge eines Tricksters aufweisen: Da ist einmal die grosse Göttin selbst, die Zeus ein tricksterähnliches Schnäppchen schlägt, wenn sie sich in die zahlreichen Göttinnen des griechischen Pantheons vervielfältigt, um ihm sein Leben zu erschweren. Daneben ist es ebenfalls der Schlauheit Aretes, der Königin der Phäaken, geschuldet, dass Medea ihre Fahrt mit Jason und den Argonauten weiterführen kann, weil sie ihren Mann König Alkinoos geschickt um den Finger zu wickeln weiss46

Siehe GF, Kapitel 43-44, S. 317-324.

. Es liesse sich wohl dahingehend argumentieren, dass Weiblichkeit für Graves mit (Vor-)Täuschung verbunden ist.

Der Trickster ist eine Figur der Ambiguität, wodurch er gemeinsame Eigenschaften mit Medea aufweist. Ob und wie Graves die Medea aus The Golden Fleece als Trickster anlegte, darüber lässt sich nur spekulieren. Da er recht bewandert war in der Literatur der klassischen Antike, ist die Vermutung naheliegend, dass ihm entsprechende lateinische Texte bekannt waren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Trickster auch als Figur in die Literaturwissenschaft überführt. Da Graves nicht nur als Dichter, sondern auch als Literaturkritiker tätig war, besteht die Möglichkeit, dass ihm dieser neue Terminus bekannt war. Jedoch findet sich weder im Index von The White Goddess noch von The Greek Myths ein entsprechender Eintrag47

Siehe GM, Band 2, S. 411, WG, S. 910.

.

Die Frage nach Graves Intention mit einer Medea als Trickster kann nicht eindeutig beantwortet werden. Auch wenn die spärliche Literatur zu The Golden Fleece das Buch als einfach konstruierte Nacherzählung der Fahrt der Argonauten, die der Leserschaft die Wahrheit hinter dem Mythos vermitteln will48

Woodrow Presley, loc. cit., S. 301.

, versteht, ist das damit verbundene Ziel Graves‘ nicht ganz so klar. Denn es ist sowohl eine euhemeristische, rationalisierende Deutung der Fahrt der Argo als auch eine Klage über den Untergang des Mutterrechts und der Göttin, zwei Bereiche, die in der Tendenz unvereinbar scheinen. Das als Motto vorangestellte Zitat von Diodorus Siculus (1 Jh. v. Chr.) verweist auf die Mehrdeutigkeit von Überlieferungen und Mythen: “But as a rule the ancient myths are not found to yield a simple and consistent story, so that nobody need wonder if details of my recension cannot be reconciled with those given by every poet and historian.49

GF, o. S.

” Sehr schön nimmt The Golden Fleece und letztlich Graves’ Porträt von Medea die Mehrdeutigkeit auf, die Mythen kennzeichnet, die sich immer verschiedenen Lesarten öffnen.

* * *

Medea ist eine Frau und Fremde in der griechischen, patriarchalen Welt, die aus dem zauberkundigen Osten kommt. Graves zeigt sie als Anhängerin der grossen Göttin, damit kommt sie wohl aus einer früheren, als zeitlos imaginierten Epoche, die gerne mit dem Matriarchat unter der Ägide der Göttin gleichgesetzt wird. Sie ist zwischen den Zeiten und Kulturen angesiedelt.

Graves präsentiert über weite Strecken Medea als Priesterin und somit als lebende Vertreterin der grossen Göttin. Diese Darstellung findet sich vor allem in seinen mythographischen Werken The White Goddess und The Greek Myths. Seine Nacherzählung der Argonautensaga The Golden Fleece weist ein komplexeres Porträt Medeas auf. Auf den ersten Blick lässt sich diese Medea zwar überzeugend als eine Vorläuferin der in The White Goddess besungenen Göttin der Dichtkunst verstehen. Verstärkt wird eine solche Lesart durch den Umstand, dass Themen wie die Verehrung und der anschliessende rituelle Tod des Dichters/Mannes von Graves bereits zu einem Ganzen zusammengefügt werden, wobei er sich als Modell nicht Medeas, sondern des Dichters und Sängers Orpheus bedient. Weiter sind die beiden Bücher – The Golden Fleece und The White Goddess – mehr oder weniger zeitgleich in den 1940er Jahren entstanden, was gewisse inhaltliche und thematische Ähnlichkeiten erklärt. Eine zweite Lesart vermittelt aber ein anderes Bild von dieser Medea. Auffällig ist, dass Graves alle magisch-mythischen Elemente der Argonautensaga in The Golden Fleece entzaubert. Davon ist letztlich auch Medea nicht ausgenommen, deren Taten bei ihm vor allem auf geschicktem Vortäuschen und Trickspielerei basieren. Sie scheint weniger eine lebende und mit magischer sowie numinoser Potenz erfüllte Verkörperung der grossen Göttin zu sein, als eine geschickte Trickstergestalt, die sich Attribute und Eigenschaften aus dem sakralen Bereich aneignet oder gar anmasst, um als eine Verkörperung der Göttin aufzutreten, um Jasons und ihr eigenes Geschick voranzutreiben.


Pour citer cette page

Meret Fehlmann, « Normes sociétales et discours littéraires : le “cas Médée” ou le motif de la mère infanticide dans la littérature germanophone » dans MuseMedusa, <> (Page consultée le ).


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